Die Streitschlichterarbeit an unserer Schule hat vor ca 7 Jahren mit der Generation 1 begonnen. Von zwei 8.Klasskollegen wurde ich damals gebeten eine Ausbildung für ihre Schüler anzubieten, nachdem wir in einer kleinen Arbeitsgruppe mit Klassenlehrern darüber gesprochen hatten, wie wir mit auftretenden Konflikten und auch Gewaltproblemen umgehen können.
Die Gruppe Generation 2 wollte diese Ausbildung ( ab 2oo8) machen, weil sie miterlebt hatten, wie hilfreich es sein kann, einen Konflikt wirklich zu lösen, der in der Klasse fast zu Mobbing geführt hatte. Das Erlebnis, in vielen Gesprächen, auch mit Streitschlichtern, am Ende zu einem gegenseitigen Verstehen zu kommen, und dann zu einer Verabredung miteinander, die für alle fruchtbar und bereichernd ist, war letztlich der Ausschlag gebende Punkt, der die Schüler dahin gebracht hat, um eine Ausbildungsmöglichkeit zu bitten .
Ein beteiligter Schüler hat es damals am Ende so formuliert:
„ich dachte, ich krieg jetzt ordentliche Strafe, aber dass die anderen versucht haben, mich zu verstehen, hat mir geholfen, die anderen zu verstehen, und dann konnte ich auch aufhören. Manchmal vergesse ich es aber wieder. Dann ist es gut, wenn wieder jemand mit mir spricht.“
Zahlen, Daten, Fakten zur Arbeit
Heute haben wir 3 „Generationen“ Streitschlichter und einige „Zwischenlösungen“
Generation 1 | | Beginn 2005: |
| | ursprünglich 22 Schüler, davon fertig 16 ausgebildete, im Einsatz als selbstständing arbeitende Konflikthelfer. |
| | 9 sind inzwischen mit der Schule fertig |
| | Viele Einsätze mit kleinen Schülern, Begleitungen und Hilfe in Mobbing-artigen Situationen |
Generation 2 | | Ausbildung ab 2008 (derzeit die Aktiven) |
Generation 3 | | Ausbildung ab 2010 (bald auch aktiv) |
| | „Nachbarschaftsschlichter“ Eichendorff- Schüler |
| | und einige 7.Klässler/8.Klässler von uns (2010) |
Generation 4 | | Steht kurz vor dem Beginn. |
Nicht alle Schüler, die die Ausbildung beginnen, machen sie auch fertig.
Nicht alle Schüler, die die Ausbildung fertig gemacht haben, arbeiten dann auch als Konflikthelfer
Permanente Weiterbildung
Alle ausgebildeten und arbeitenden Schüler haben regelmäßig einmal pro Woche so etwas wie kollegiale Supervision.
Fast alle ausgebildeten und arbeitenden Schüler fahren 3-4 mal im Jahr an Wochenenden auf eine Weiterbildungs-und Arbeitsfahrt, um in der Gruppe zu arbeiten, neue Fragen zu erörtern, und auch, um an den eigenen, in der Gruppe entstehenden Konflikten zu arbeiten, sprich an sich selbst zu arbeiten..
„Standards“ der Ausbildung
Ausbildungen durch uns sehen formal 45 Stunden vor, es sind real immer viel mehr.
Ausbildungsziel ist das Erwerben einer mediativen Grundhaltung mit all dem, was dazu gehört. Die Anzahl der Stunden ist ein Richtwert neben anderen , z.B. der Frage der Haltung, den der Bundesverband Mediation u.a. angeben, um zu verhindern, dass unter dem Namen Mediation irgendwelche anderen Dinge sich einnisten. Schüler sollen eigentlich nur von Mediatoren ausgebildet werden, dazu braucht es eine Ausbildung.
Die Hauptthemen der Ausbildung sind, grob vereinfacht und verkürzt:
- Arbeit an der eigenen Haltung: Vorurteile überwinden, etwas Schwieriges äußern ohne den anderen anzugreifen oder zu beschuldigen. ( Ich-Botschaften)
- Interesse entwickeln auch an etwas oder jemandem, den oder das ich nicht mag.
- Hinterfragen lernen, was jemandem, der irgendwie merkwürdig ist, fehlen könnte ( also versteckte Bedürfnisse)
- Aktives Zuhören, also fragen lernen, ohne zu nerven und ohne Hintergedanken, sondern sich auf den anderen einlassen
- Mit eigenen Worten etwas zusammen fassen, was ein anderer sagt, ohne die eigene Haltung oder gar Wertung dazu zu mischen
- Wie man jemandem, der mit Worten verletzt, ohne Verletzung seinen Ärger mitteilen kann
- Wie ein Konflikt verlaufen und dabei eskalieren kann.
- Wie man eingreifen kann, mit Interesse, mit fragender statt urteilender Haltung
- Wie Mobbing entstehen kann, wie man eingreifen und unterstützen kann ( Mobbing-Pyramide)
- Wann die Grenzen der eigenen Arbeit erreicht sind, wann man jemanden dazu holen muss oder kann
- Wie wichtig die Erfüllung elementarer Grundbedürfnisse für den Menschen ist: Sicherheit, Anerkennung, Schutz, Wertschätzung, Selbstwert, Freundschaft usw.. und wie Gewalt entstehen kann, wenn sie einem Menschen lange Zeit versagt bleiben
- Welche Informationen aus Gesprächen ganz vertraulich bleiben können, welche aber unbedingt weiter gegeben werden müssen, weil Gefahren damit verbunden sind, (z.B. bei Selbstverletzungen..)
- Wie man ein gutes Gespräch führt, bei dem man sich am Ende ganz klar verabredet und wie man sich verabredet, dass die Verabredung auch eingehalten wird ( Nachgespräche usw.)
- Was es braucht, dass sich Menschen wieder versöhnen können
- Dass es viel schöner ist, wenn Menschen offen und achtsam miteinander umgehen, weil sich die Brille von dunkel in hell verwandeln kann…
Themen der Arbeitswochenenden:
- Mobbing: wie sieht das aus, wie kann man eingreifen, was sind ganz wichtige Dinge, die man wissen muss?
- Gruppendynamik: was ergibt sich woraus und was könnte jeder verändern, dass sich die Guten Dinge ergeben können?
- Mobbing ist lösbar : Artikel schreiben
- Fortbildung: das erstarrte Wort- Online-Kommunikation : Sprache wieder ins Fließen bringen
- Deeskalation bei Gewalt oder Krisen untereinander
- Versöhnung- was braucht es, dass Versöhnung wirklich stattfinden kann
Inhalte mancher Arbeitwochenenden waren auch die gemeinsame Vorbereitung auf die Streitschlichterkongresse, die bis jetzt immer von Karlsruhe vorbereitet wurden.
Ehrenamtlicher Arbeitseinsatz von Lehrern und Schülern
Arbeitseinsatz der Schüler durchschnittlich 2 Stunden pro Woche
Was tun die Schüler-Mediatoren?
Im Haus hier
- Begleitung Einzelner , denen es schlecht geht, die sich an uns wenden, die neu gekommen sind, und sich im Sozialen noch nicht sicher fühlen, sich nicht zurecht finden usw.
- Konflikte zwischen Gleichaltrigen: Nach einem Erstgespräch mit einem Beteiligten, der sich an uns wendet, oder dessen Eltern sich an uns wenden, oder Klassenkameraden….Gespräche in verschiedenen Settings, um den beteiligten Schülern zu helfen, sich auszusprechen, ohne neu zu eskalieren, evtl Lösungen mit den Beteiligten gemeinsam erarbeiten, wie man einen Konflikt lösen, eine Verletzung heilen, auf jeden Fall wieder besser miteinander umzugehen kann.
- Mobbing aufspüren und eingreifen, auf verschiedene Weise, meistens sind es sehr kleine Feedbackgespräche, Hinweise , die man jemandem gibt,
- Schauen, wo Schüler häufig am Rande stehen, wo über bestimmte Schüler häufig unschön gesprochen wird, wo Gerüchte verbreitet werden, um dann vorsichtig und achtsam darauf zuzugehen und etwas in Lösung zu bringen.
- Ideen entwickeln, wie man gemeinschaftliche Aktionen machen kann mit Gruppen von Schülern, die es schwer miteinander haben.
- Cyber-Mobbing: Augen auf im Netz
Geplant ist: jüngere Schüler aufklären über das, was im Internet passiert, was die Jugendlichen beobachten, welche Fehler da passieren, wo gefährliche Botschaften ausgesprochen werden usw.
Einschätzung der Bearbeitung solcher Problemfälle:
Und auch, wenn dann doch wieder etwas vorkommt, wieder mal jemand mit jemand anderem dumme Sachen sagt, die Schüler merken doch, dass es 1.) nicht spurlos verschwindet, sondern dass Leute gibt, die das ansprechen, und sie merken, 2.)dass das nicht im Sinne von „Tadel“, sondern im Sinne von Feedback geschieht. Es trägt dazu bei, dass die Schüler irgendwann Eigenverantwortung übernehmen. Auch wenn das im Einzelfall vielleicht erst nach der Schulzeit so sein sollte.
Ein ganz wesentlicher Faktor dabei ist die Beziehungsarbeit, die es nach einer Weile ermöglicht, dass Vertrauen entstehen kann. Das kann dazu führen, dass einige Schüler, die das erlebt haben, wieder kommen, von alleine, und von ihrem Bockmist erzählen, den sie mal wieder angestellt haben. Das passiert interessanterweise immer mehr per mail oder sms.
Wir haben heute einfach immer mehr einsame Kinder und Schüler, oder Schüler, die Beziehung als etwas erlebt haben, was halt dann wieder bricht, also eigentlich verletzte Kinder. Das ist ein Aspekt, den wir alle miteinander stärker ins Bewusstsein nehmen müssen. Die jugendlichen „Begleiter“, also Schülermediatoren, sind da in Einzelfällen gar nicht wegzudenken. Wir bekommen hier auch Rückmeldungen von Eltern, die sehr dankbar darüber sind, dass es das gibt.
Arbeit über den Rahmen der Schule hinaus:
Unsere Schüler-MediatorInnen arbeiten teilweise auch außerhalb der Schule
Über den gemeinnützigen Verein INTEResse :
www.interesse-ev.de
www.mobbing-ist-lösbar.de
a) Vorbereitung und Gestaltung der Streitschlichterkongresse
- Karlsruhe ( 2oo9)
- Marburg ( 2o1o)
- Karlsruhe ( 2o1o)
- München-Schwabing ( 2o111)
- München-Gröbenzell
Themen der Streitschlichterkongresse:
- Wie wir die Welt zum Guten verändern wollen ( Manifest der Streitschlichter an Waldorfschulen)
- Mobbing und Gewalt- Auswege aus Teufelskreisen
- Einrichten des Online-Hilfeforums
- Wie gelingt Versöhnung ( Mandela und ander Beispiele)
- De-Eskalationsmöglichkeiten: was kann ich selbst tun, um einem anderen aus der Not zu helfen, in der hinein geraten ist? ( Frühjahr 2o12)
b) Tandem-Tagungen
Die Tandem-Tagungen sind das Herzstück der überregionalen Arbeit und sind ins Leben gerufen worden von der Generation 1 der Karlsruher zusammen mit den Gründern von INTEResse. Sie finden jährlich einmal statt und heißen Tandem-Tagungen, weil Schüler und Lehrer verschiedener Schulen gemeinsam an dem Thema arbeiten. Unsere Schüler waren bis jetzt immer in der Vorbereitung tätig und jeweils zwei waren dann auch immer dabei in der Regie der Tagung.
c) Pädagogische Wochenenden
Einige der Streitschlichter, die schon sehr weit gekommen sind, auch in der Reflexion der eigenen Tätigkeit, oder die viel Erfahrung gesammelt haben, haben mitgewirkt an pädagogischen Wochenenden für andere Schulen ( Darmstadt, Schwabing, Augsburg, Heidelberg, Hamburg-Bergstedt, Zürich, demnächst Berlin, Ismaning u.a.)
d) Oberstufenveranstaltungen in Form von Berichten ihrer Arbeit haben ebenfalls einige Streitschlichter abgehalten, z.B. in Vaihingen/Enz, Reutlingen, Augsburg, Heidelberg, teilweise war das auch in Konferenzen der Schule
e) das Online-Hilfe- Forum „Mobbing ist Lösbar“. Nach zwei Streitschlichterkongressen und vieler anschließender Arbeit, Fortbildung in Sachen Online-Kommunikation etc. vieler Beteiligter ist das Forum gegen Mobbing und Hilfestellung beim Bearbeiten jetzt seit Juni im Netz. Wir hatten dazu eine Unterstützung von der Stiftung Bündnis für Kinder- gegen Gewalt erhalten und den Rest über den Verein finanziert.
Unsere Erfahrungen aus der Arbeit bisher:
Wir haben viel gelernt und Vieles auch verändert in diesen Jahren
Die Haltung ist entscheidend ! Dann sind Methoden sinnvoll.
Die Haltung kann man so beschreiben:
Vorurteile überwinden, Interesse entwickeln auch an etwas oder jemandem, den oder das ich nicht mag. Hinterfragen lernen, was jemandem, der irgendwie merkwürdig ist, fehlen könnte ohne ein Urteil zu fällen, sondern mit dem Versuch, auch das Andersartige zu verstehen.
Methoden werden immer erst dann sinnvoll sein, wenn die Haltung stimmt ( also bereit zur Vorurteilsfreiheit und Gewaltfreiheit)
Dann sind Methoden wie Ich-Botschaft ( eigentlich auch eine Haltung), Aktives Zuhören., Perspektivenwechsel, Gewaltfreie Kommunikation, Gesprächsführung usw.. wirkungsvolle Instrumente.
Streitschlichter fällen kein Urteil über andere Schüler, sondern sie versuchen, Menschen ins Gespräch und ins gegenseitige Verstehen zu bringen, um aus diesem Verstehen ein Gefühl dafür zu entwickeln, was ein anderer braucht.
Dabei geht es um Denken im Sinne von vorurteilsfreiem Wahrnehmen, um Fühlen im Sinne von Mitfühlen und um Wollen im Sinne von tatsächlichem Handeln, um lösungsorientierte Verabredungen zu treffen und sie auch durchzuführen.
Meistens nehmen die betroffenen anderen Schüler genau dieses als wertvolles Erlebnis mit, das ihnen Beziehung ermöglicht, auch zu den Streitschlichtern und vor allem einen konstruktiven Weg zur Konfliktaustragung aufzeigt, den sie selbst gerne lernen wollen. Die meisten sind überrascht, dass das möglich ist, ohne Bestrafung, ohne Schuldgefühl eine Problematik auf Augenhöhe lösen zu können.
Karlsruhe ist die Pionier-Waldorfschule der Streitschlichter- Arbeit an Waldorfschulen
Wir sind die Pionierschule, was Schülermediatoion betrifft, im ganzen deutschsprachigen Raum, und daher kommt es auch, dass wir ständig angefragt werden, pädagogische Wochenenden zu halten, in Konferenzen zu berichten, Vorträge über Konflikte, Mobbing und Gewaltprävention zu halten. Manchmal werden wir auch zu Interventionen , also zum Eingreifen in einer akut schwierigen Situationen, gerufen.
Nach uns haben inzwischen ca 4o Schulen in irgendeiner Weise mit einer ähnlichen Arbeit begonnen, das ist allerdings an jeder Schule anders, und das ist auch richtig so..
Das Streitschlichterprojekt gehört inzwischen der Unesco-Arbeit an. Das ist aus der Sache heraus wichtig, denn es geht der Unesco vor allem um Nachhaltigkeit.
Unsere nächsten Projekte neben der „normalen“ Arbeit:
- Der nächste Streitschlichterkongress in Gröbenzell zum Thema : „Nicht wegschauen, sondern sicher handeln“ bzw „wie finde ich heraus, was ein anderer braucht?“
- Das Handbuch für Schüler, Eltern und Lehrer zum Thema „Ohne Interesse geht Beziehung nicht“
- Weiterentwicklung des Online-Hilfeforums
- Einbindung von Frau Wallmann in die Begleitungs- und Ausbildungsarbeit
August 2o11, Angelika Ludwig-Huber
Mediatorin/ Schulmediatorin BM